Wie verändert sich das Leben nach der Geburt eines Kindes mit besonderen Bedürfnissen? Mit körperlichen und/ oder geistigen Beeinträchtigungen? Mit einer schweren – und vielleicht sogar zusätzlich noch seltenen – Erkrankung?
Die erste Zeit
Grundsätzlich würde ich mich zu der Aussage hinreißen lassen, dass die Geburt jedes Kindes das (Familien-) Leben in einem gewissen Ausmaß verändert. Die Nächte werden sehr kurz, die eigenen Bedürfnisse werden denen des Säuglings untergeordnet, es gilt ein neues Familienmitglied in die Familienstruktur zu integrieren usw. usw.
Bei der Ankunft eines Kindes mit Beeinträchtigungen kommen allerdings weitere Aspekte hinzu: Plötzlich findet man sich mit seinem Baby in einer Parallelwelt im Krankenhaus wieder. Ängste um das eigene Kind von bis dato unvorstellbarem Ausmaß rauben einem den Schlaf und die Ohnmacht, das Nicht-Helfen-Können, lässt einen fast verzweifeln.
Nach dem Anfangsschock
Ich weiß wirklich nicht mehr, wie wir die ersten drei Monate in Franzis Leben, in denen ich jeden Tag mit einer Kühltasche mit Muttermilch die 65 km mit dem Zug nach München gependelt bin, überstanden haben. In dieser ersten Zeit funktioniert man als Eltern einfach und versucht, auch für weitere Familienmitglieder da zu sein. Im Nachhinein erkennt man, wie schnell sich der Mensch mit den Gegebenheiten arrangieren kann – und doch ist da Trauer!
Trauer um eine Version der Zukunft
Erst im Rahmen meiner Ausbildung zur Trauerbegleiterin bin ich damit konfrontiert worden, wie viele verschiedene Arten der Trauer es – neben der Trauer um einen geliebten Menschen – gibt. Eine davon spielt bestimmt eine Rolle, wenn ein Kind mit einer Beeinträchtigung oder einer Krankheit zur Welt kommt: Die Trauer um die Zukunft, wie man sie sich, beispielsweise während der Schwangerschaft, ausgemalt hatte.
In der Retrospektive haben auch wir nach der Geburt unseres Sohnes getrauert. Unser Kind sollte glücklich und gesund zu Hause sein und sich höchstens der Liebesbekundungen seiner großen Schwester erwehren müssen – stattdessen lag es in einem Kunststoffbett auf einer sterilen Intensivstation, angeschlossen an diverse Kabel und Schläuche, die in seinen kleinen Körper führten, und konnte sich aufgrund seiner Muskelschwäche und des Beatmungsschlauchs im Hals weder körperlich noch verbal gegen die täglichen Blutabnahmen wehren.
Und wir: Wir standen hilflos daneben – unfähig unser Kind vor den Torturen zu beschützen.
Wie unsere Lebensfreude wieder bei uns einzog
Nach drei Monaten in der Krankenhaus-Diagnostik-Maschinerie durfte Franzi endlich heim. Von da an ging es nicht nur mit seiner Entwicklung steil bergauf, sondern es kehrte auch unser Glaube zurück, dass wir dieses (neue) Leben wertvoll, sinnvoll und glücklich führen können. Wir wissen welches Glück wir in vielen Aspekten unseres Lebens hatten, dass wir zu diesem Zeitpunkt bereits zu dieser Überzeugung kommen konnten. Dies war ein Privileg und wir wissen, dass es viele Eltern gibt, die mit ganz anderen Problemen – zusätzlich zur Erkrankung ihres Kindes – zu kämpfen haben. Seien es finanzielle Probleme, Sorge um den vermeintlich sicheren Arbeitsplatz oder dass sich plötzlich ein Elternteil als Alleinerziehende/r wiederfindet, da die Beziehung an der neuen Situation zerbrochen ist.
Beistand in Krisenzeiten
Nach Kräften wollen wir Familien in diesen Krisenzeiten ein verlässlicher Partner sein, der als Impulsgeber in unterschiedlichsten Bereichen mit einem stets offenen Ohr zur Verfügung steht und auch in belastenden Situation Beistand leistet. Nach der Geburt eines Kindes mit besonderen Bedürfnissen, haben auch die Eltern sowie die ganze restliche Familie „besondere Bedürfnisse“. Wir würden uns sehr freuen, wenn auch Sie sich um Familien in existentiellen Krisen sorgen und uns bei unserer Arbeit unterstützen möchten!
Vielleicht fragen Sie sich, wieso dieser Beitrag „Willkommen in Holland“ heißt?!
Ich möchte Ihnen den fabelhaften Text der amerikanischen Schriftstellerin Emily Perl Kingsley mit diesem Titel vorstellen. Darin beschreibt sie, wie sie die Situation erlebte, als 1974 ihr Sohn mit Trisomie21 (Down-Syndrom) geboren wurde. Oft habe ich diesen Artikel verschenkt, wenn ich mal wieder das Gefühl hatte, dass jemand die Situation, in der wir steckten, nicht nachvollziehen konnte:
„Willkommen in Holland“ von der US-amerikanischer Schriftstellerin Emily Perl Kingsley
Emily Perl Kingsley beschreibt ihr Leben als Mutter ihres Sohnes wie folgt:
Wenn man ein Baby erwartet, ist das, als wenn man eine wundervolle Reise nach Italien plant. Man deckt sich mit Reiseprospekten und Büchern über Italien ein und plant eine wunderbare Reise. Man freut sich auf das Kolosseum, Michelangelos David, eine Gondelfahrt in Venedig, und man lernt vielleicht noch ein paar nützliche Brocken Italienisch. Es ist alles so aufregend. Nach Monaten ungeduldiger Erwartung kommt endlich der lang ersehnte Tag. Man packt Koffer, und los geht‘s. Einige Stunden später landet das Flugzeug. Der Steward kommt und sagt: „Willkommen in Holland.“ „Holland?!? Was meinen Sie mit Holland? Ich habe eine Reise nach Italien gebucht! Mein ganzes Leben lang habe ich davon geträumt, nach Italien zu fahren!“
Aber der Flugplan wurde geändert. Du bist in Holland gelandet, und da musst du jetzt bleiben. Wichtig ist, die haben uns nicht in ein schreckliches, dreckiges, von Hunger, Seuchen und Krankheiten geplagtes Land gebracht. Es ist nur anders als Italien.
So, was du jetzt brauchst, sind neue Bücher und Reiseprospekte, und du musst eine neue Sprache lernen, und du triffst andere Menschen, welche du in Italien nie getroffen hättest. Es ist aber nur ein anderer Ort, langsamer als Italien, nicht so auffallend wie Italien. Aber nach einer gewissen Zeit an diesem Ort und wenn du dich vom Schrecken erholt hast, schaust du dich um und siehst, dass Holland Windmühlen hat… Holland hat auch Tulpen… Holland hat sogar Rembrandts.
Aber alle, die du kennst, sind sehr damit beschäftigt, von Italien zu kommen oder nach Italien zu gehen. Und für den Rest des Lebens sagst du dir: „Ja, Italien, dorthin hätte ich auch reisen sollen, dorthin hatte ich meine Reise geplant.“
Und der Schmerz darüber wird nie und nimmer vergehen, denn der Verlust dieses Traumes ist schwerwiegend.
Aber… wenn du dein Leben damit verbringst, dem verlorenen Traum der Reise nach Italien nachzutrauern, wirst du nie frei sein, die speziellen und wundervollen Dinge Hollands genießen zu können.
(Copyright Emily Perl Kingsley)
Mich berührt der Text jedes einzelne Mal. Dank unseres wundervollen Sohnes wissen wir, welche besonderen und unbezahlbaren Reize Holland als Reiseziel hat!
Kennen Sie eigentlich die umfangreiche Linkliste zu unseren Stiftungsthemen „Leben mit schwer bzw. selten erkranktem Kind“ und „Leben mit Trauer als verwaiste Familie“?